Auf nach Crossing

Die luxuriöse, von großen Pferden gezogene Kutsche donnerte über die Königsbrücke und dann den Damm der Straße nach Süden entlang. Sie wurde von vier weißen, schwarzgefleckten Hunden, zusammen mit zwei Reitern begleitet und bewacht. Nicht, dass das Land unsicher gewesen wäre, aber der Fahrgast liebte keine Überraschungen. Trotzdem musste dieser gerade feststellen, dass seine Karosse an Fahrt verlor und schließlich hielt; er hatte nicht den Befehl dazu gegeben und ein Weghaus gab es hier auch nicht.
Der Bote war zunächst über die Ebene eilig nach Westen geritten und dann weiter nach Norden abgebogen, je früher er seinen Auftrag erledigt hatte, desto zufriedener würde sein adeliger Herr sein. Als eine Kutsche in der Entfernung auftauchte, freute er sich und hoffte darauf, Westberg vielleicht gar nicht erst verlassen zu müssen.
Beim Näherkommen bemerkte der Kurier das halbe Dutzend der ungewöhnlichen Begleiter des prächtigen Gefährtes. Lächelnd zügelte er sein Pferd und hob die Hand zum Gruße. Daraufhin gab der vordere Reiter seinem Ross die Sporen, so dass er schnell auf den Boten zugaloppiert kam. Nachdem die beiden einige Worte gewechselt hatten und etwas übergeben worden war, ritt der Wächter zurück.
„Was ist los, Johan?“, drang eine tiefe Stimme unwirsch aus dem Wagen. Der Kutscher drehte sich um und öffnete eine kleine Luke, durch die er in das Innere sprach. „Ein Reiter mit einer Botschaft für euch, Herr!“
Ein großer, abgewetzter Lederhandschuh, in dem ein Stück Papier lag, schob sich durch die Luke nach drinnen. Der gut und teuer gekleidete Insasse nahm den zusammengefalteten Brief entgegen und brach das Siegel.

An den Edlen und Vorsichtigen Kaufmann Heinrich Mercutor, Bürger zu Crossing
Zuvor meinen freundlichen Dienst dem ehrbaren und weisen Herrn, sowie besonders guten Freund.
Wisset, dass uns unser Schreiber zu Crossing berichtet hat, es seien Gelder der fürstlichen Vogtei zu Duncan, dessen Amt mein Sohn Wedigo zurzeit innehat, verschwunden und auf diese Weise eine große Schuld auf unser Haus gekommen. Da die Gelder zur Vermehrung in eure Schatullen gegeben wurden und die Amtmänner der Vogtei sowohl mein, als auch des Fürsten unerschütterliches Vertrauen besitzen, möchte ich sobald als möglich mit euch darum sprechen, damit dem Tugelbend solch Sache nicht zu Ohren käme.
So tut mir bitte das Beste, was ihr mir also von Rechtswegen pflichtig seid. Ich erwarte euch auf der Burg meiner Ahnen und eure Antwort durch diesen Boten.

Geschrieben unter unserem Siegel der Verschwiegenheit, am zehnten Tage des Wonnemondes im Jahre 5 n.d.E.
Odo von Falkenfels, Burgvogt des Ritters Marten von Falkenfels


Der Händler ließ den Papierstreifen sinken und starrte nachdenklich aus dem Fenster auf die zahlreichen Baumgruppen und Hügel im Westen. In der entgegengesetzten Richtung thronte, wie ein Adlerhorst, die stolze Burg Falkenfels über den Klippen der Osttaler Berge. Der alte Falke konnte warten – vorab musste der Ratsherr zuhause in seinem Kontor herausfinden, was es mit der Sache auf sich hatte. „Sagt dem Boten, ich komme morgen!“ „Jawohl Herr!“, kam die Antwort von draußen und die Luke schloss sich. Mit einem leisen Seufzen sank der Geschäftsmann zurück und klopfte dann gegen die Wand seiner Droschke, woraufhin ein „Heyahh“ und der laute Knall einer Peitsche ertönte.

Nachdem sie die Tore in den Mauern der Handelsstadt Crossing passiert hatte, steuerte die Kutsche und ihre Eskorte direkt den Marktplatz an; Häuser mit steinernen Grundmauern und Fachwerk, manchmal mit Schiefer gedeckt, zogen vorbei. Eigentlich mochte Mercutor seinen Heimatort nicht besonders. Die Stadt war laut, eng und dreckig; überall wurden Schweine und Ziegen gehalten und durch die Gassen getrieben. Lediglich auf dem Marktplatz, an dem sich sein Haus befand, ließ es sich aushalten. Er stieg aus seinem Gefährt und sofort scharwänzelten die vier großen, schlanken Hunde um die Beine ihres Herren. Er wartete kurz, bis seine treuen Tiere die Steine vor seinen Füßen abgeschnüffelt und sauber geleckt hatten, denn von dem Stand eines nahegelegenen Garbraters war das Blut eines frisch geschlachteten Ferkels durch die Gosse gelaufen. Dann ging der Kaufmann durch den Torbogen in den Hof seines großen Hauses und betrat die Stube, in dem die Geldgeschäfte abgehandelt wurden.

Versteckt im Schatten der gegenüberliegenden Rathauslaube wartete der Meuchelmörder Gisnot. Diesmal würde er niemanden zu den Göttern schicken; eigentlich schade, denn der Schurke mochte den Moment, in dem das Aufblitzen der Erkenntnis in die Augen seiner Opfer trat, dass sie gleich den letzten Atemzug ihres Lebens tun würden. Solange allerdings die Wechsel, die üblicherweise in einem der Bankhäuser für ihn hinterlegt waren, auch eingelöst wurden, erfüllte er die verborgenen Wünsche seiner anonymen Auftraggeber ohne Fragen zu stellen. Gisnots Profession war in Westberg von niemandem gern gesehen und sehr gefährlich. Sollte er jemals einen Fehler begehen, wartete der Strang auf ihn, und dies war eine wirklich selten verhängte Strafe in dem friedlichen, kleinen Fürstentum. Aber es gab eben Dinge, die seine Existenz erforderten. Er hatte genug gesehen und schlich sich in Vorfreude böse lächelnd von dannen.

„Was soll das heißen?“ Mercutor war äußerst erregt und schaute seinem Schwiegersohn tief in die Augen. Rufus Mel-Mercutor lief der kalte Angstschweiß den Rücken hinunter. „Ich weiß auch nichts genaues, aber vor zwei Tagen fiel mir bei einer der üblichen Kassenprüfungen auf, dass in der Schatulle der Vogtei zu Duncan achthundert Handsilber fehlen. Ich habe wirklich keine Ahnung, wer da so tief hineingegriffen und uns betrogen hat! Vie-, vielleicht hat Fendrick was damit zu tun?!“ „Der Schreiber? Was für ein Unsinn, der kann doch gerade mal seine Feder halten, aber kein betrügerisches Geschäft einfädeln! Und so unglaublich dumm, die Münzen einfach aus der Kassette zu nehmen, ist er wiederum auch nicht!“
Mercutor fragte sich nicht zum ersten Mal, was sein Mädchen an diesem Trottel mochte und warum er sich dazu hatte hinreißen lassen, Rufus als Erben anzunehmen. Es musste wohl die Trauer um seine Frau gewesen sein, die ihn kurz nach der Hochzeit der Kinder für immer verlassen hatte. Na ja, wenn sein Schwiegersohn sich als völlig unfähig erweisen sollte, würde er den Finsteren Schleicher, den er zwar nicht persönlich kannte, der aber immer zuverlässig seine unsauberen Unternehmungen abgesichert hatte, auf ihn ansetzen; auch wenn das hieß seiner liebsten Tochter weh zu tun. Die sensiblen Geschäfte der komplexen Finanzwelt, welche unangenehme Folgen haben konnten, vertrugen nicht die geringste Störung. „Vater?“ Übereifrig trat Rufus vor ihn hin. „Hmm?“ Gedankenversunken schüttelte Mercutor den Kopf. Die beflissene Art dieses Speichelleckers widerte ihn an. Irgendjemand musste sich Zugang verschafft und die Gelder gestohlen haben, ohne das dieser Einfaltspinsel es gemerkt hatte.
Der Mann seiner jüngsten Tochter stand nun neben dem schweren, dunklen Tisch in der Mitte des holzgetäfelten Raumes. „Ich werde die Bücher noch einmal genau durchsehen und versuchen mehr herauszufinden!“ „Ja, tu das! Und keine weiteren Fehler mehr! Wenn ich nicht da bin, muss ich mich voll und ganz auf dich verlassen können... sonst schmeiß ich dich raus!!! Hast du das verstanden?! Mira wird dir dann auch nicht mehr helfen können, so etwas darf einfach nicht vorkommen!“ Ärgerlich über diese unschöne Affäre wandte sich der Händler von dem einzigen Schwachpunkt in seinem Leben ab und ging. Rufus setzte sich wieder hin und versuchte seinen Verstand zu beruhigen. Nur gut, dass er von der Existenz des Finsteren Schleichers Wind bekommen hatte und diesem mit dem Decknamen seines Schwiegervaters einen Auftrag hatte zuspielen können. Durch die Anzeige des fehlenden Geldes war es ihm geglückt, von sich selbst und seiner fatalen Fehleinschätzung abzulenken – wie schaffte dieser geniale Unternehmer es nur immer wieder Erfolg zu haben und dabei nicht aufzufallen?  Na ja, der Alte würde die ganze Sache schon unbeschadet überstehen... hoffte er.

Das Fenster war für Gisnot kein Problem gewesen, aber jetzt stand er dummerweise vor einer Zwischentür, die von innen mit einem Riegel verschlossen war und ein verdammt kompliziertes Schloss hatte. Warum mussten sich die sonst so geizigen Pfeffersäcke auch immer eine so aufwändige und teure Mechanik leisten. Nach einem verbogenen Dietrich und mehreren Versuchen mit seinem Stilett trat er geräuschlos in das fensterlose Zimmer. Zum Glück hatte er leise genug arbeiten können, so dass das Ziel seiner Anstrengungen noch schlief.
Mercutor wurde durch etwas Kaltes an seiner Kehle geweckt und schaute auf einen finsteren Schatten, der ihn zischend ansprach. „Wenn du das nächste mal gefragt wirst, wer die Gelder veruntreut hat, dann sagst du, dass dir ein Geschäft misslungen ist und du die Schuld dafür trägst – ist das angekommen?“ „J-, Jaa!“ „Gut... wenn nicht, bist du tot und mein Auftraggeber wird sich über einen Konkurrenten weniger freuen!“ Flink schlich sich der nächtliche Eindringling wieder davon und hinterließ einen verstörten Kaufmann mehr in Crossing.